28.03.2012 - 15:43 - 7 Wochen Ohne Fastenmail

6. Woche: „Fehlerlos genug? Mit sich und anderen gnädig sein“
(Johannes 8,1–9)

Liebe Freundinnen und Freunde von „7 Wochen Ohne“,

100% geschafft – das ist fehlerfrei! Macht’s glücklich? Von Kindheit und Schulzeit an geht es darum, möglichst wenig Fehler zu machen. Das haben wir gelernt. Das scheint das Ziel zu sein, die fehlerfreie Leistung. Der Computer kann nur 0 und 1, richtig oder falsch, und danach leben wir.
Dabei wissen wir doch, dass wir von Kindesbeinen an am meisten aus unseren Fehlern lernen: Versuch und Irrtum, Neugier aufs Leben, Forscherdrang. Eine fehlerfreundliche Kultur, die mehr auf den Menschen und weniger auf das Ergebnis fixiert ist, täte uns gut.
Jesus sagt in der Geschichte von der Ehebrecherin: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Ist Jesus damit prominentester Vertreter einer menschengemäßen Kultur geworden? Der Stein, der damals nicht geworfen wurde, ist jedenfalls ein Meilenstein auf dem Weg zu unserer heutigen demokratischen Rechtsstaatlichkeit.
Ob überhaupt der erste Teil des berühmten Jesus-Wortes noch verstanden wird? Wer spricht heute noch von Sünde? Sie ist verschwunden, außer in den alten Liedern im Gesangbuch wie „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. Gelegentlich taucht sie noch auf mit einem augenzwinkernden Gänsefüßchen als „Sünde“, Sahnetorte gegessen zu haben. Wir leben überwiegend in einer sündenfreien Welt. Die Last des Sünderseins ist von uns gewichen, und nur noch Ältere erzählen davon, wie kirchlicher Sündendruck einst die Seelen quälte.
Geht es uns deshalb besser? Die Tatsache, um die es geht, hat sich ja nicht verflüchtigt. Ich höre in unseren Gesprächsandachten in der Fastenzeit von zunehmender Überforderung und Druck. Ich höre und lese vom Leiden an Lug und Trug, Mord und Totschlag. Ist das nicht mit „Sünde“ gemeint gewesen, menschenverachtende Handlungen, die zugleich Gott als Schöpfer die Anerkennung  verweigern?
„So wahr mir Gott helfe“, mit diesem Schwur hat der neue Bundespräsident offiziell sein Amt angetreten. Damit hat er sein Handeln den Menschen gegenüber in Verbindung gesetzt zu seinem Glauben an den Gott, der Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen will – und der vor allem eines ist: gnädig.
Dass wir diese Spannung von Gnade und Sünde aufrechterhalten, ist eine Lebenskunst und die Stärke des Glaubens an Gott. Mit dieser Spannung können wir leben und selbst gnädig werden: mit unseren Fehlern und mit den Fehlern anderer. Die Sünden befehlen wir der Gnade Gottes. Ist das nicht eine wunderbare Entlastung des 100% Anspruches?
Weil sie uns gilt – und den anderen auch, diese Gnade, können wir fröhlich mit Luther sagen: „pecca fortiter“, sündige tapfer!

Angelika Detrez


  


 



Angelika Detrez ist Pfarrerin in der evangelischen Paul-Gerhardt-Gemeinde in Frankfurt-Niederrad. Sie leitet seit vielen Jahren Gesprächsandachten in der Adventszeit und in der Fastenzeit, hier meist zu den Themen von „7 Wochen Ohne“. Ihre weiteren beruflichen Stationen bewegten sich im Rhein-Main-Gebiet: sie war Dozentin am Religionspädagogischen Studienzentrum in Schönberg und Pfarrerin an der Dreikönigskirche in Frankfurt-Sachsenhausen.